Wie rassistisch eine Psychotherapie für People of Color sein kann
Rassismus kann Traumata auslösen. Zu seinen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit wurde aber bisher kaum geforscht. Das hat Folgen: Von Therapeut*innen werden Betroffene oft nicht ernst genommen.
von Eja Kapeller
am 08.04.2020, 10.00 Uhr
Als Lida * vom Selbstmord eines Freundes erfährt, kann sie nicht mehr schlafen, nicht mehr denken, nicht mehr die Wohnung verlassen. Nach einem Aufenthalt im Krisenzentrum bekommt die Afghanin einen Therapieplatz. Mit ihrer Psychotherapeutin macht Lida Fortschritte – bis ihr Leben im Februar 2020 erneut aus den Fugen gerissen wird: Am 19. Februar ermordet ein rechtsextremer Terrorist neun Menschen in zwei Shishabars in der hessischen Stadt Hanau. In der Nacht kann Lida nun wieder nicht schlafen. „Ich sehe aus wie die Opfer. Ich halte mich an denselben Orten auf wie sie“, sagt sie. „Ich habe Angst um meine Schwester. Ich habe Angst, dass uns dasselbe passiert.“
Wenig Verständnis von Therapeut*innen
Aber als Lida darüber mit ihrer Therapeutin sprechen will, wehrt diese ab. „Sie hat mir gesagt, ich solle mich da nicht so reinsteigern. Man könne schließlich auch auf der Straße überfallen werden.“ Schon zuvor hatte Lida ihrer Therapeutin erzählt, dass sie sich als nicht weiße Frau an ihrem Ausbildungsplatz nicht wohlfühlt – die Therapeutin hat es als Übertreibung abgetan. „Ich war richtig verzweifelt. Wenn ich hier nicht darüber reden kann, wo dann?“, sagt Lida.
Die WIENERIN hat in den vergangenen Wochen mit Schwarzen Menschen und People of Color über ihre Therapieerfahrungen gesprochen. Sie haben Eltern, die im Ausland geboren sind, sind geflüchtet oder in Österreich auf die Welt gekommen und aufgewachsen. Sie alle haben der WIENERIN im Gespräch ähnliche Erfahrungen geschildert:
„Mir wurde gesagt, dass ich mich nicht über Rassismus aufregen solle, weil ich eh sehr hell sei.“
„Ich bekam oft zu hören: ‚Es ist immer sehr angenehm, sich als Opfer zu sehen!’“
„Als ich erzählt habe, dass ich an der Supermarktkassa mit dem N-Wort beschimpft wurde, war die Reaktion meiner Therapeutin: ‚Warum können Sie das nicht einfach ignorieren?’“
Es soll in dieser Geschichte nicht darum gehen, einzelne TherapeutInnen anzuklagen. Das Problem beginnt nicht bei ihnen. Es liegt in einem Gesundheitswesen, in dem Weißsein die Norm darstellt und der Schmerz von nicht weißen Menschen systematisch ausgeblendet wird – in der Forschung, in Lehrbüchern und an Ausbildungseinrichtungen.
Weiß und Schwarz beschreiben keine biologische Eigenschaft wie die Hauptpigmentierung, sondern Privilegien bzw. Diskriminierungen aufgrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Um das im Sinn einer diskriminierungssensiblen Sprache deutlich zu machen, wird weiß kursiv gesetzt und Schwarz mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben.
Die meisten Psychotherapeut*innen sind: WEISS
Wer in Österreich psychische Unterstützung sucht, der wird in den meisten Fällen bei weißen Psychotherapeut*innen und Psycholog*innen landen. Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele nicht weiße Therapeut*innen es in Österreich gibt. Man kann sich der Zahl aber annähern. So sprechen etwa weniger als ein Prozent aller Therapeut*innen in Wien Türkisch oder Bosnisch; außerhalb von Wien sind es noch weniger. Auch die Vorsitzende des Wiener Landesverbands für Psychotherapie, Leonore Lerch, schätzt den Anteil an Psychotherapeut*innen of Color in Österreich als gering ein: „Es ist natürlich auch eine Frage der Selbstbezeichnung. Aber ich kenne in Wien nur eine Handvoll andere Schwarze Kollegen.“
Lerch ist Schwarze Psychotherapeutin und beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Diversität, Intersektionalität und Rassismus in der Psychotherapie. Sie sagt: Es gibt nicht nur zu wenige Therapeut*innen of Color, sondern auch zu wenig Auseinandersetzung mit Rassismus und seinen Auswirkungen auf die Psyche.
Zu rassistischer Diskriminierung und ihren Folgen wurde im deutschsprachigen Raum bisher kaum geforscht. „Der Fokus liegt eher auf Stressfaktoren infolge von Migration und weniger auf Diskriminierungserfahrungen“, sagt Lerch. In der internationalen Forschung gilt Rassismus inzwischen als ein wesentlicher Faktor für die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit: Der Psychologieprofessor Robert T. Carter entwickelte anhand seiner Studien das Modell des „Race-based Traumatic Stress“. Es besagt, dass einzelne rassistische Ereignisse nicht traumatisierend wirken müssen – in Summe können sie aber zu einer traumatisierenden Gesamtbelastung führen.
Symptome wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder Magenschmerzen können mit den Rassismuserfahrungen der Patient*innen zusammenhängen.
Rassismus kann ein Trauma sein
„Rassistische Diskriminierung wird daher oft nicht als Trauma wahrgenommen“, sagt Lerch. Auch in ihre Praxis kommen immer wieder Menschen mit Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten oder Magenschmerzen. Im Gespräch stellt Lerch oft fest, dass diese Symptome mit den Rassismuserfahrungen ihrer PatientInnen zusammenhängen. „Dazu muss man aber wissen, dass Rassismuserfahrungen Stress auslösen und sich negativ auf die Gesundheit auswirken“, sagt sie. „Ansonsten kann das zu falschen Diagnosen führen.“ Deutsche Therapeut*innen haben 2019 den Verbund Rassismuskritische Psychotherapie, Psychologie und Beratung gegründet, bei dem auch Lerch mitwirkt. In Österreich steht die Diskussion über rassismuskritische Psychotherapie noch am Anfang.
„Es gibt schon Angebote, aber viel zu wenig“, sagt Linda Acıkalın. Sie ist Psychotherapeutin bei Miteinander Lernen – Birlikte Ögrenelim. Seit 1993 bietet der Verein Psychotherapie in türkischer Sprache an; Rassismus ist ein zentraler Therapieinhalt. „Für fast alle unserer Klientinnen und Klienten ist das ein großes Thema“, sagt Acıkalın. Die Wartezeit für ein Erstgespräch beträgt derzeit zwei Monate. Auch die Psychologin Parissima Taheri-Maynard sieht großen Bedarf. „Mir hat das selbst sehr gefehlt“, sagt sie. Taheri-Maynard hat sich auf Minority Health spezialisiert und veranstaltet seit zwei Jahren Workshops zu psychischer Gesundheit für Schwarze Menschen und People of Color in Wien.
Mikroaggressionen sind wie Mückenstiche: Einer ist nicht schlimm – wer aber jeden Tag mehrmals gestochen wird, wird das Jucken nicht aushalten.
Nur weil es keine Beleidigung ist, ist es trotzdem Rassismus
Leonore Lerch, Parissima Taheri-Maynard und Linda Acıkalın, sie alle erzählen, dass viele ihrer Klient*innen zuvor schlechte Erfahrungen mit anderen Therapeut*innen gemacht haben. Auch bei der Beschwerdestelle des Wiener Landesverbands für Psychotherapie gibt es Meldungen über als rassistisch erlebtes Verhalten seitens der Therapeut*innen. Man darf sich darunter keine beabsichtigten Beleidigungen vorstellen. Vielmehr, so Lerch, seien es die vielen kleinen unreflektierten Äußerungen, die Therapeut*innen tätigen und damit ihre Patient*innen verletzen. „Fast niemand wird absprechen, dass es sich um eine Traumatisierung handelt, wenn eine Schwarze Person beschimpft oder womöglich geschlagen wird“, sagt Lerch. Wenn Patient*innen aber von den kleinen Alltagsrassismen erzählen, dann werden diese Erfahrungen oft bagatellisiert. Auch die Menschen, mit denen sie arbeite, sagt Taheri-Maynard, würden das oft so erleben: „Dass Therapeutinnen und Therapeuten Rassismuserfahrungen absprechen, kommt häufig vor.“
Für ihre Patient*innen hat das Folgen: Für Schwarze Menschen und People of Color ist der Alltag ein niemals endender Spießrutenlauf aus winzigen übergriffigen Handlungen und Äußerungen. Wissenschaftler*innen nennen diese kleinen Verletzungen Mikroaggressionen. Man kann sie sich vorstellen wie Mückenstiche: Wer nur hie und da gestochen wird, der wird sie kaum wahrnehmen und auch nicht schlimm finden. Wer aber mehrmals täglich, Tag für Tag, einen Stich erlebt, für den wird das Jucken schnell nicht mehr auszuhalten sein. Die Therapie, sie sollte ein Ort ohne Mücken sein. „Wir müssen im Alltag ständig erklären, wenn uns etwas verletzt. Und meistens wird uns nicht geglaubt“, sagt Taheri-Maynard. „Es ist sehr problematisch, wenn sich das auch in der Therapie fortsetzt, weil es die Wirklichkeit der Betroffenen infrage stellt.“ Das Absprechen der eigenen Wahrnehmung ist es auch, was Lida zu schaffen machte: „Ich bin mit Schuldgefühlen heimgegangen und habe mich gefragt: Bilde ich mir das alles nur ein?“
Machtgefälle als Teil der Psychotherapie-Ausbildung
Die Psychologin Grada Kilomba schreibt: Dass wir die Traumata von People of Color nicht als solche benennen, liegt daran, dass die Geschichte der rassistischen Unterdrückung und ihre psychologische Auswirkung innerhalb des westlichen Diskurses bisher vernachlässigt wurden. Auch heute sei das noch so.
An Österreichs größter psychologischer Fakultät, der Fakultät für Psychologie an der Universität Wien, gibt es im Bachelor- und Masterstudium jeweils nur eine Lehrveranstaltung, die sich mit Macht und Ungleichheit auseinandersetzt. Welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Psychotherapieausbildung in Österreich einnimmt, ist schwer zu beurteilen – über 60 Einrichtungen dürfen Ausbildungen zum Psychotherapeuten bzw. zur Psychotherapeutin anbieten. Das Gesundheitsministerium gibt dafür grobe Mindestbestimmungen vor; als expliziter Lehrinhalt werden rassismuskritische Perspektiven darin nicht genannt.
„Es wäre wichtig, dass gerade Psychotherapeuten ihre eigene Positionierung in der Gesellschaft, die eigene Privilegierung, aber auch Diskriminierungserfahrungen reflektieren“, sagt Lerch. Im nächsten Jahr wird sie eine Fortbildung zu rassismuskritischer Psychotherapie anbieten – die erste dieser Art in Österreich. Für Taheri-Maynard steht fest: „Wir sollten uns fragen: Mit wem wollen Menschen in vulnerablen Situationen reden? Und dann müssen wir diese Personen in die richtigen Positionen bekommen.“ Weil es nicht genügend TherapeutInnen of Color gibt, würden viele erst gar keine Hilfe in Anspruch nehmen. „Auch wenn eine weiße Therapeutin vielleicht gleich gut helfen könnte: Wir werden es nie wissen, weil sich viele erst gar nicht trauen, hinzugehen.“
Lida spricht mit ihrer Therapeutin inzwischen nicht mehr über ihre Rassismuserfahrungen. „Ich habe mich danach jedes Mal nur noch schlechter gefühlt“, sagt sie. Seit einiger Zeit besucht Lida Treffen, die Taheri-Maynard für Schwarze Menschen und People of Color veranstaltet. „Es gibt mir Sicherheit, zu wissen: Ich kann dort hingehen und werde verstanden.“