Bildung digital gestalten – das haben viele Bildungsanbieter in den letzten Wochen umgesetzt, auch in der Basisbildung. Wie das funktioniert und welche Herausforderungen damit einhergehen, erzählt Gerhild Ganglbauer vom AlfaZentrum für MigrantInnen (VHS Wien), die auch als Basisbildnerin in einer NGO arbeitet.
Lucia Paar: Wie gelang es in den letzten Wochen mit den Teilnehmenden Kontakt zu halten und einen Kursabbruch zu verhindern?
Gerhild Ganglbauer: Im Team gab es bereits früh die Entscheidung, die Lernangebote in digitaler Form weiter zu führen, so konnten wir das vor der Schließung kommunizieren, aber meist nicht mehr persönlich. Anfänglich gab es bei einigen wenigen Teilnehmer*innen das Missverständnis, dass es sich um eine Kurspause handeln würde. Deshalb haben nicht alle Lernenden, aber fast alle, die digitalen Lernangebote wahrgenommen. Das Wichtigste war und ist, den Kontakt mit den Teilnehmer*innen weiter aufrecht zu erhalten – jenseits von Aufgaben.
Wie funktioniert Basisbildung in Zeiten von Corona?
Die Frage, für alle Basisbildungsangebote zu beantworten ist sicherlich unmöglich, weil die Bandbreite an Angeboten und Adressat*innen so vielfältig ist. Basisbildung ist – so unser Eindruck – großteils digital gegangen, auch in den Angeboten für Lese- und Schreibanfängerinnen. Wir wissen aber auch von Anbieter*innen, die ganze Arbeitspakete in Papierform per Post an ihre Teilnehmer*innen verschicken. Viele Anbieter*innen konnten in ihren Kursgruppen auf schon bestehende Instant-Messaging-Dienste zurückgreifen und damit das Verschicken von Aufgaben bewerkstelligen.
Auf welche Herausforderungen stoßen Sie dabei?
Die größte Schwierigkeit und zugleich Voraussetzung für die digitalen Angebote ist die \“Ent-körperlichung\“ des gesamten Lernangebots. Digitale Angebote sind in ihrer Vermittlungsmöglichkeit eingeschränkt und anstelle von dialogischen Lehr-und Lernmöglichkeiten ist die digitale Aufgabenvermittlung getreten, die doch wesentlich direktiv funktioniert. Die unmittelbare Abstimmung mit den Lernenden über Themen und Inhalte ist hier nicht einfach möglich. Das heißt, digitale Lernangebote ersetzen den gemeinsamen Lernraum, Aufgaben werden erstellt (oder ausgewählt), verschickt und beantwortet. Die Kommunikationswege sind nicht mehr polylogisch – Lernende sind also nicht mehr Hörende und Sprechende zugleich, sondern sie befinden sich zumeist in monologischen Einbahnstraßen mit den Lehrenden.
Wir denken, eine weitere große Herausforderung ist die Verständlichkeit der Aufgabenstellungen selber, wenn Kontextualisierung und gemeinsame Erarbeitung von Lerninhalten und Themen wegfällt. Es ist so, als würde nur ein Skelett von Aufgaben übrigbleiben, allerdings hat sich der Körper – sinnvolle Didaktisierung und Erarbeiten von Inhalten – dabei aufgelöst. Lehrenden fehlt die Resonanz des gemeinsamen Raums und der Dialog mit den Lernenden. Wir nehmen an, dass die Lernenden die sozialen Beziehungen, das Lernen und gemeinsame \“Tun\“ in der Kursgruppe vermissen, in Kleingruppen und in Paaren. Nachfragen und Reflektieren sind nur sehr beschränkt möglich. Verstehen und Verständlichkeit sind in diesem \“körper-losen\“ Raum von unterschiedlichen Sprachkenntnissen beschränkt.
Wie können Aufgaben so formuliert werden, dass Lernende, die noch wenig Deutsch verstehen, sie nachvollziehen können? Wie gut können Lernende bereits Deutsch lesen oder mündliche Aufgabenstellungen auf Deutsch verstehen? Können Möglichkeiten des Nachfragens bedacht werden? Das sind Fragen, die sich stellen.
Wie verändert sich das Lehren und Lernen?
Es muss genauer gefragt werden, WAS und WIE hier Lernen ermöglicht wird. Das ist die größte Herausforderung. Überspitzt formuliert nehmen die digitalen Geräte und die Aufgaben, die verschickt werden, den Platz der Lehrenden ein. Was grundsätzlich verloren geht, sind die sozialen Beziehungen, die ein wichtiger Teil des (gemeinsamen) Lernprozesses sind. Der Kommunikation in und mit einer Gruppe ist jetzt eine ent-körperlichte Kommunikation gewichen, die von den Lehrenden meist frontal ist. Viele Lernende verfügen nicht über die Möglichkeiten oder das Wissen um beispielsweise an Videokonferenzen teilzunehmen. Die in der Kurssituation intensiven sozialen Beziehungen sowohl zwischen den Lernenden als auch zwischen Lehrenden und Lernenden fehlen. Telefonieren oder E-Mails sind ein Ersatz, aber auch nur ein Ersatz. Lernende sind ebenso voneinander getrennt und das so zentrale Element von gemeinsamen Lernen, Nachfragen und Reflektieren ist vom Lerngeschehen losgelöst. Gelernt wird isoliert und in Feedback-Szenarien mit den Lehrenden. Feedback kann die Dynamik eines gemeinsamen Austausches zu einem Thema nicht ersetzen. Feedback fokussiert eine konkrete Situation, eine bestimmte Aufgabe – Feedback beurteilt hier Einzelne.
Das klingt herausfordernd. Was hat sich noch verändert?
Welche Formen von Aufgaben hier verschickt werden, ist eine der Fragen, die uns am meisten beschäftigt. Wie offen können diese Aufgaben sein? Oder geht es in den digitalen Lernangeboten mehr um ein Abfragen, Prüfen und Testen, um Ausfüllübungen und LearningApps?
Was relativ leicht möglich ist, ist Unterrichten als \“Einbahnstraße\“; Aufgaben erstellen, auswählen und verschicken und die Bearbeitungen wieder empfangen. Wir haben die Sorge, dass viele Aufgabenformate auf ein Prüfen und Testen hinauslaufen. So wie das bei vielen LearningApps etwa der Fall ist und eine Frage genau nur eine richtige Antwort kennt. Wenn Antworten sinngemäß richtig sind, aber die Orthografie nicht korrekt, werden die Antworten als \“falsch\“ ge- und bewertet. LearningApps sind gemeinhin so konzipiert, dass sie nur eine richtige Antwort kennen, ergebnisorientiert sind und interessante Denk- und Lösungswege nicht nachvollziehen können.
Außerdem halten wir eine Thematisierung und ein Bewusstsein von dem, was alles nicht gelernt werden kann in diesem digitalen Szenario für wichtig. Kann beispielsweise Leseverstehen in dieser Situation vermittelt oder nur abgeprüft werden? Können Strategien zur Selbstkorrektur von Texten vermittelt, Hörverstehen gemeinsam erarbeitet werden? usw.
Was sind die Situationen, mit denen Lehrende im Moment umgehen?
Grundsätzlich machen wir (auch als Lehrende) die Erfahrung, dass Arbeiten in dieser kleingeschrumpften Form auf ein Display – technisch und formal gesehen – äußerst anstrengend ist. Die Lernenden, mit denen wir zu tun haben, verfügen (meistens) über Smartphones, auch wenn es nicht ihre eigenen sind, aber nicht über Laptops oder PCs. Fotografierte Seiten, die für die Aufgaben\“erkennung\“ immer so verschoben werden müssen, dass sich aus dem Puzzle der kleinen Teile ein ganzes Bild ergibt, um dann die Aufgabenstellungen daraus zu lesen und zu erfassen, ist eine mühselige Angelegenheit.
Der Aufwand für die Lehrenden ist enorm, sofern er über eine einfache Korrektur und Einteilung in richtig oder falsch hinausgeht. Sobald man versucht, einzelnen Lernenden zu erklären, warum korrigiert wurde und wie und warum ein anderer Lösungsweg zu beschreiten ist, verschlingt das viel Zeit, in der andere Lernende schon wieder Fragen oder fertige Aufgaben geschickt haben und sich eine möglichst schnelle Reaktion seitens der Lehrenden erwarten. Auch die zeitliche Ent-grenzung ist ein Phänomen dieser digitalen Lernangebote.
Eine Frage, die im Zusammenhang mit digitalen Lernangeboten oft nicht gestellt wird, ist die nach der Verwendung von den Tools, die hier genutzt werden. Welche Instant-Messanger-Dienste, welche Videokonferenzdienste werden hier verwendet? Können wir es im Sinne des Datenschutzes verantworten?
Unsere Lernenden können oft nicht auf Mails antworten, schreiben ihre Antworten in die Betreffzeile, weil sie nicht wissen, wie sie ins Textfeld kommen, können keine Anhänge hinzufügen. Bedenklich ist, dass in solchen Krisenzeiten die Regeln des Datenschutzes oft gelockert werden – oder vielleicht auch müssen. Aufgrund der eingeschränkten digitalen Möglichkeiten unserer Lernenden muss teilweise auf Kommunikationskanäle wie WhatsApp zurückgegriffen werden, was nicht den Datenschutzvereinbarung entspricht, die Lernende zu Kursantritt unterschrieben haben.
Wie gehen die Teilnehmenden mit der Situation um?
Grundsätzlich ist die Situation zum Lernen denkbar ungünstig. Nachdem alles auf die eigenen vier Wände geschrumpft ist, sind Ruhe und ausreichend Platz zum Lernen wohl eher die Ausnahme und die Bewältigung des Alltags auf (meist beengtem) Wohnraum, ökonomische Sorgen und Existenzplagen schon für sich genommen eine Herausforderung, an der man – überspitzt formuliert – eigentlich nur scheitern kann. Es hat sich in unseren Maßnahmen gezeigt, dass Lernende, die in Verhältnissen wohnen, die von sozialen Diskrepanzen und Konflikten geprägt sind, schwerer zu erreichen sind, als andere, da ihnen die Möglichkeit fehlt, sich räumlich und zeitlich abzugrenzen. Der Kursraum bietet einen geschützten Rahmen, um sich aufs Lernen konzentrieren zu können. Alternativen im öffentlichen Raum wie Büchereien fallen in der momentanen Situation ebenfalls weg. Dazu kommt noch die Verunsicherung durch die Corona-Situation selber, mangelnde Informationen in den Erstsprachen über sich schnell ändernde Verhaltensregeln und –gebote und die Angst, sich nicht richtig zu verhalten, prägen das Bewusstsein.
Wir sind beeindruckt, wie konsequent der Großteil der Lernenden sich ein kleines Stück Zeit aus dem Alltag nimmt, Texte schreibt, Hörtexte hört, Kommunikation und Lernen aufrecht zu erhalten vermag. Um Lernen zu können, werden Familienmitglieder und Nachbar*innen mobilisiert, die helfen, Mailadressen einzurichten und Apps downzuloaden. Die Motivation und das Engagement vieler ist großartig. Fraglich ist, wie lange dies anhalten kann.
Wie wird es weiter gehen?
Es zeigt sich bereits, dass sich Lernende (und Lehrende) auf das Wiederaufnehmen von Präsenzunterricht unter den gegebenen Vorsichtsmaßnahmen freuen. Es ist anzunehmen, dass uns nicht nur die Reflektion des Distance-Learning weiter beschäftigen wird, sondern auch die Frage nach den digitalen Fertigkeiten (auf Seiten der Lehrenden und Lernenden) sowie die Herausforderung von didaktisch sinnvollen Angeboten. Lernangebote in der Basisbildung werden sich verändern.
Gerhild Ganglbauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im AlfaZentrum für MigrantInnen/ lernraum.wien mit dem Schwerpunkt Alphabetisierung/Basisbildung und Deutsch als Zweitsprache. Außerdem ist sie Basisbildnerin bei Miteinander Lernen/Birlikte Öğrenelim.
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